Schule: Territorium von Lehrern und Schulwarten

(Erschienen am 07.10.2009 in „Die Presse“)

Die Großparteien täten gut daran, für eine vernünftige Zwischenlösung in der Bildungsfrage zu sorgen.

Für jemanden, der sich zeit seines beruflichen Lebens als Hochschul- und späterer Universitätslehrer in Arbeitsgruppen der beiden (Noch-)Großparteien für Bildung intensiv engagiert hat, ist das gegenwärtige Bildungsdesaster keine Überraschung. Von Anfang an war unklar, was man unter Bildung verstehen sollte: die Berufsausbildung für die gerade aktuell abzudeckenden Berufe oder eine allgemeine Voraussetzung für die Befähigung zu Urteil und Kritik. Weder die föderal gesteuerte Lehrerausbildung noch die Universitäten haben sich klar dafür entscheiden können, was wirklich zu tun sei. Der Vorsitzende des Österreichischen Wissenschaftsrates, Jürgen Mittelstrass, sprach davon, dass ca. 60 Prozent aller deutschsprachigen Universitäten Fachhochschulen seien, die der Berufsvorbereitung dienten. Sie seien eben keine Bildungsstätten, die eine Elite von Führungskräften anpeilten, die imstande wären, für alle Funktionen, also auch in sozialen und politischen Kontexten, in Entscheidungsgremien und Beiräten, also in Leitungspositionen sichere Voraussetzungen zu erwerben.


Nicht zu viel Schmutz

Dazu kam, dass aufgrund der Notwendigkeit der Zweidrittelmehrheit für Entscheidungen im Unterrichtssystem ein Stillstand im Denken um Struktur und Lehrinhalte eintrat.

Einen wesentlichen Teil an der Misere trägt die Lehrergewerkschaft, vor allem jene der AHS-Lehrer, die nur mehr ihre eigenen Besitzstände und deren Vermehrung beobachteten, was geringere Stundenzahlen bedeutete, differenzierte Entgelte für die jeweiligen Fächer, höhere Gehälter und vor allem, möglichst viel freie Zeit. Die Werbung für das Lehramt ab den 1960er-Jahren bestand denn auch darin, von einem Halbtagsjob zu sprechen.

Schule insgesamt war zum Herrschaftsterritorium der Lehrer geworden, konkurrenziert nur von den Schulwarten, die ängstlich darauf achteten, dass die Verschmutzung nicht zu hoch geriet, oder die anwesenheitsfreie Zeit der Schüler nicht für andere Aktivitäten der Gesellschaft genützt wurden. Die politischen Parteien hatten, nach Ländern gegliedert, die Schulen fest im Griff, bestimmten die Direktoren nach ihrem eigenen Gutdünken (Parteibuch) und verordneten Stillschweigen über interne Vorgänge (Gewalt!), wie eine OECD-Studie jüngst nachwies.

Dazu kam, dass die Sozialdemokraten trotz 30-jähriger Verantwortung für das Unterrichtsressort nichts bewegen konnten. Zwar punkteten die Schlagworte von Politischer Bildung und Sexualkunde, was, wie wir heute sehen, keinerlei Konsequenzen hatte, während die Christdemokraten unausgesprochen die Privilegien der bürgerlichen Oberschicht verteidigten. Wer Geld hatte, konnte sich eben die flächendeckend besseren Privatschulen leisten.


Scheindemokratisierung

Für die vernünftige Gesamtschule der Sechs- bis 14-Jährigen wird nach wie vor kein einhelliges Votum erreicht, weil die ÖVP davon ausgeht, dass ihre Wähler für ihre Kinder Zukunftsentscheidungen im Alter von knapp zehn Jahren treffen wollen. Von einer Mitentscheidung der Kinder ist dabei keine Rede.

Ein Grundproblem ist und bleibt der Inhalt von Bildung und seiner Verwechslung mit Ausbildung. Es wird grosso modo von keiner Klientel infrage gestellt. Die Universitäten waren froh, dass man die Verwissenschaftlichung in den Schulen implantierte, weil sie glaubten, damit eine bessere Studienvorbereitung zu erhalten. Dies stellt sich inzwischen als völliger Irrtum heraus. Die Lehrer bauten nach wie vor auf ihr Modell des Frontalunterrichts mit quantitativem Wissensballast, der im Repetitionsverfahren abgeprüft werden sollte. Die Eltern hatten von alldem keine Ahnung und zu wenig Interesse, weil sie die Schule als alternative Erziehungsinstitution zu ihren eigenen und aus vielen Gründen sehr mühsamen Versuchen verstanden.

Die Scheindemokratisierung mit Namen Schulgemeinschaft ergab realiter ein gewerkschaftsanaloges Splitting der Interessen. Die Lehrer mit ihrer repressiven Toleranz, hätte man noch 1970 gesagt, hatten das Sagen, weil sie am längeren Ast per Notengebung saßen. Die Schülervertreter holten sich Kompromisse ab, die sie als Siege empfanden, wenn Prüfungstermine zwingend fixiert werden mussten und der latenten Reflexion kein Raum mehr gelassen wurde. Die Eltern wagten, meistens aus Rücksicht auf ihre Kinder, kaum Widerspruch und beschränkten sich eher auf interaktive soziale Fragestellungen.

Die Schulbehörden glaubten mit dem Allheilmittel der Bürokratie, nämlich Verordnungen, Weisungen und Kontrollen, ihrer Aufsichtspflicht zu genügen. Das zuständige Ministerium war eifrig bestrebt, Scheinordnungen zu etablieren. Dazu kam, dass aus völlig schulfremden Motiven einigen Verlagen Sanierungen durch kostenlose Gratisschulbücher verschafft und Lehrern das Schreiben von diesen ermöglicht wurde, wobei, wie erst jüngst festgestellt, Vorurteile unterstützt, Klischees weitergetragen und wie immer quantitative Wissensanhäufungen präferiert wurden.

Ein Kardinalfehler der politischen Parteien, der aber nicht ihnen allein angelastet werden kann, sondern auch der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert, war, ausschließlich kognitive Fakten zu vermitteln, statt deren Domäne mithilfe von Metaphern, Vergleichen, Erfahrungen, also sinnlich wahrnehmbaren Dimensionen nahezubringen. Dieses kognitive Element, das unter dem Prätext von Objektivität eingeführt wurde, brachte eine Abstraktion von Wissen und damit eine kaum erlernbare Struktur als Norm, womit die emotionale Intelligenz, die als Behältnis von wirklichem Lebensbewusstsein von 80 Prozent der menschlichen Entscheidungen fungiert, völlig vernachlässigt wurde. Logische Folge war die etappenweise Reduzierung der auf Sinnlichkeit ausgerichteten Fächer wie Kunst, Literatur, Musik, Theater, Sport, Rhetorik und Tanz, überhaupt kreative Arbeit, die, als überflüssiges Beiwerk definiert, mehr oder weniger aus der Schule hinausgedrängt wurden. Der Zuwachserfolg von Eliteschulen, die ausgerechnet in diesen Fächern punkteten, beweist, dass diese Form der Negierung von sinnlicher Merkbarkeit Defizite schuf, die in den öffentlichen Schulen nur mehr im Privatunterricht, der wieder von den wohlhabenderen Schichten bezahlt wird, kompensiert werden konnten.


Bildungsfrage entscheidet Wahl

Das Argument von einer Prüfphase, die erst in Österreich evaluiert werden müsste, steht den international überprüften Realitäten hilflos gegenüber und zeigt nur jene Selbstüberschätzung, wie sie paradigmatisch der gegenwärtige Wirtschaftsminister 2009 in Alpbach lieferte, dass Österreich überhaupt keine Bildungsmisere kenne, was einen Unternehmer zur Frage nach dessen Hausverstand provozierte.

Ich habe immer die These vertreten, dass Wahlen in einer Gesellschaft, die von ökonomischer Not bedroht ist, früher oder später über die Bildungsfrage entschieden werden, weil im Gegensatz zu allen anderen Interessengruppen die Eltern ihre parteipolitische Verbundenheit in der Wahlzelle vergessen, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht.

Die Großparteien täten gut daran, nicht nur in ihren Gremien, sondern in der gesamten Bundesregierung für eine wirklich vernünftige Zwischenlösung in der Bildungsfrage zu sorgen. Die beträfe nicht nur die Neue Mittelschule, sondern auch die zukünftigen Lehrinhalte. Was bei den Universitäten zumindest in Ansätzen der Forschungspolitik versucht wird, wobei der Freiheitsraum der dort Betroffenen ungleich größer ist als jener, den die Lehrer je hatten, wäre hier die Chance zu einem neuen Anfang. Auch hier gilt der Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben; konkret die Zukunftschancen unserer Kinder. Sie werden, dessen bin ich sicher, einmal, wenn sie die gesellschaftliche Führung übernommen haben, darauf zurückkommen.